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Kjell Cederström, Chef der Reichsmordkommission, kurbelte die Scheibe herunter und streckte den Kopf aus dem Fenster.
„Also, hier hast du genug Platz.“
Behutsam lenkte Henning den Lastwagen von der breiten Olof Palmes Gatan in die Drottninggatan. Zwei Steinlöwen flankierten die Einfahrt als Zeichen dafür, dass Autos von hier an verboten waren. Nachdem Henning die Löwen unbeschadet hinter sich gelassen hatte, ließ er den Wagen an den dunklen Fassaden der Läden vorbeischleichen, um nicht eines der weit in die Straße hineinragenden Ladenschilder abzureißen. Bei ihrer letzten Fuhre im Frühling hatten sie kapitulieren müssen, denn der Weihnachtsschmuck wurde in der Drottninggatan wirklich nur während der drei heißesten Sommermonate abgenommen, um ihr nicht die Gemütlichkeit zu rauben. Damals brauchten sie eine ganze halbe Stunde, um die abgerissene Glühbirnengirlande wieder vom Führerhaus des Wagens zu wickeln.
Hier im Nordteil der Straße gab es sieben Antiquariate, einige Cafés und Speiselokale, das alte Centralbad, ein Fachgeschäft für Buddhakitsch und einen Laden mit billigen Gürteln und Handtaschen. Die Enge sorgte für ein mittelalterliches Miteinander zwischen den Ladenbesitzern und der Weihnachtsschmuck das ganze Jahr über für gute Umsätze.
Als sie Idas Laden erreichten, waren alle Lichter im Inneren erloschen, nur der gelbe Schimmer aus dem Hinterzimmer verriet, dass noch jemand da war. Henning fuhr weiter, bis sich die Straße nach zwanzig Metern zu einem kleinen Platz weitete und er in zwei Zügen wenden konnte. Mit etwas mehr Schwung fuhr er zum Laden zurück und schaltete den Motor aus. Kurz nachdem die Hydraulikbremsen gezischt hatten, gingen im Laden die Lichter an. Ida erschien an der Tür und sperrte auf. Wenn sie geschlafen hatte, machte sie immer ein ernstes Gesicht.
Kjell entschuldigte sich für die enorme Verspätung. „Wir haben ewig mit den Leuten Kaffee trinken müssen, bis sie zugestimmt haben. Und dann mussten wir auf der Küstenstraße zweimal anhalten und warten, bis das Gewitter weitergezogen war.“
„Hier ist das Gewitter noch gar nicht gewesen“, sagte Ida und gähnte.
„Dann erleben wir dasselbe Gewitter also dreimal“, brummte Henning und betätigte den Hebel. Die Rampe senkte sich summend herab.
Obwohl es im Laderaum kein Licht gab, leuchteten Idas Augen auf einmal hellwach. „Ist es schwer?“
„Leichter, als es aussieht“, antwortete Henning und kletterte auf die Rampe.
„Linda ist auch da. Sie will helfen.“
„Hallo Papa!“ Linda kam aus dem Laden geeilt und kletterte zu Henning auf die Rampe. Seit dem Abitur half Linda mit Begeisterung im Laden mit und suchte überall nach Verantwortung, die sich nach spätestens zwei Stunden in Luft auflöste.
Henning griff unter das lange Sofa und zog es bis zur Kante. Dort übernahm Kjell. Mit wenigen Handgriffen hatten sie es auf dem Gehweg abgesetzt. Ida wollte an Ort und Stelle probesitzen und wippte so begeistert, dass die alten Polsterfedern quietschten. Bei einer Reise ins Ausland hatte sie sich in die Idee verliebt, dass man in einer Buchhandlung auch sitzen konnte. Die anderen Händler in der Straße standen der Idee einer Sitzgelegenheit in einer Buchhandlung kritisch gegenüber. Es gab Buchgeschäfte und es gab Cafés. Beides zusammen war unmoralisch. Was hatte Ida Florén in ihrem Antiquariat als nächstes vor? Im Ausland sei Sitzen nicht unmoralisch, hatte Ida unbeschwert entgegnet und war seitdem trotz ihres lichtblonden Haars das schwarze Schaf unter den Stockholmer Antiquaren. Auch Kjell war von Idas Einfall nicht begeistert. Seit sie den Laden übernommen hatte, entwickelte er sich zu einem Ausflugsziel. Frauen kamen gar nicht mehr, dafür aber Männer, um Ida bei einem zweistündigen Gespräch über Immanuel Kant schöne Augen zu machen.
„Der Laden muss eben laufen“, behauptete Ida. „Das Sofa von Strindberg rundet mein Geschäftsmodell ab.“
„Echt?“, rief Linda. „Das ist das Sofa von Strindberg? Auf dem er mit all den Frauen saß? Oder lag?“
Ida nickte entschieden. Sie stammte aus einem uppländischen Organistenhaushalt und hatte sich dreistes Lügen mit acht Jahren selbst beigebracht.
Linda bekam einen Klaps von ihrem Vater. Damit wollte sie ihr Vater zu mehr Wachsamkeit und Skepsis konditionieren.
„Dass sie sich davon getrennt hat!“, jubelte Ida und nahm die beiden Sessel in Augenschein. Das helle Holz war poliert und ohne Makel, die Bezüge mittsommerwiesengrün.
„Leicht war es nicht“, erwiderte Kjell. „Sie hat die Sachen sehr geliebt.“
Henning brummte. „Sie hat das Geld noch ein wenig mehr geliebt, da kannst du sicher sein.“
Kjell und Henning hatten nur eine Kanne Kaffee und einen ganzen Möhrenkuchen lang gebraucht, um der alten Lina aus Ludvika zu versichern, dass den Sitzmöbeln eine erhabene Zukunft in Strindbergs Lieblingsbuchhandlung bevorstehe. Auch hier war Strindberg wieder eine glatte Lüge. Die einzige Verbindung zu ihm war seine ehemalige Wohnung vier Häuser weiter, und Strindberg war höchstens mal mit seinem geladenen Revolver an diesem Geschäft vorbeigeschlichen.
Aus dem italienischen Restaurant gegenüber kam Franco herbeigeeilt und stemmte seine niedrige Schulter unter das Sofa, das jetzt auf halber Strecke durch die Tür klemmte. Obwohl er rasch ins Keuchen kam, lobte er das gute Stück, bis es an seinem vorbestimmten Platz stand. Seit Ida ihr Geschäft vor vier Monaten übernommen hatte, kam Franco sogar mehrmals am Tag herübergeeilt, man konnte beinahe von einem neuen Sinn im Leben des Italieners sprechen. Den Rest des Tages lehnte er in der offenen Tür seines Restaurants und schaute herüber. Sobald Ida einmal aufschaute, winkte er. Kjell hoffte, dass bald der Winter kam.
Warum man nicht auf eine Pizza und einen Wein zu ihm herüberkomme? Kjell, Henning und Ida verständigten sich mit Blicken, bevor sie nickten. Alle hatten Hunger, und das Pizzabacken war immerhin Francos zweitgrößte Leidenschaft.
„Ich bringe lieber erst den Wagen zur Autovermietung zurück“, sagte Henning. „Den kann ich hier nicht stehenlassen.“
„Dann komme ich mit“, rief Linda vom Hinterzimmer aus. „Cissi wollte später vorbeikommen.“
„Wollt ihr ausgehen?“, fragte Kjell.
„Nein, wir müssen die Reise vorbereiten.“
Linda würde in den nächsten Tagen mit einigen ihrer ehemaligen Klassenkameradinnen in den Schären herumsegeln und polierte daher seit einer Woche das Boot. Das war Kjell immer noch lieber als eine Flugreise zu einer Sangriahölle am Mittelmeer. Sie würden dreizehn Mädchen in fünf Booten sein.
Kjell trug die beiden Sessel herein. Als er wieder auf die Straße trat, hatte der Wagen bereits die beiden Löwen erreicht. Er sah Henning auf dem Trittbrett neben der Fahrertür stehen und Anweisungen erteilen. Kjell stellte sich mitten auf die Straße und verfolgte, wie seine Tochter den Lastwagen in aller Seelenruhe durch das Hindernis hindurchmanövrierte und nach rechts abbog. Beim Führen von Fahrzeugen suchte seine Tochter stets nach neuen Horizonten.
Auf einmal bremste der Lkw, und die Bremslichter leuchteten die ganze Drottninggatan rot aus. Ein schwarzer Wagen schoss von links auf der Olof Palmes Gatan heran, bremste heftig vor Linda, umfuhr das Führerhaus des Lastwagens und gab dann Vollgas. Henning sprang vom Trittbrett, brüllte hinterher und lief hinüber zur Beifahrertür. Linda fuhr an, der Lkw verschwand um die Ecke.